Mit „Deutschland Schwarz Weiß“ legte Noah Sow 2008 ein Standardwerk zum Thema Alltagsrassimus in Deutschland vor. Sieben Jahre später zieht sie im Interview Bilanz.
Seit der Veröffentlichung von „Deutschland Schwarz Weiß“ sind jetzt schon fast 10 Jahre vergangen. So wie ich das sehe, hat sich seitdem allerdings nur mittelmäßig viel verändert in Sachen Rassismus und z.B. rassistischer Berichterstattung in deutschen Medien. Bin ich zu pessimistisch oder was wäre Ihre Einschätzung?
Noah Sow: Sieben Jahre ist es jetzt her. Und leider immer noch aktuell. Emanzipatorische Aufklärung zeigt sich meistens in wellenförmigen gesellschaftlichen Tendenzen, auf Erfolge kommt der so genannte Backlash, also der Rückschritt, die Abwehr, Misshandlungen durch die Dominanzkultur, die sich dadurch bedroht fühlt, dass sie andere nicht mehr bedrohen darf. Ich habe mir nie vorgemacht, dass ich die Köpfe von Menschen, also auch Medienschaffenden, ändern kann, wenn die sich nicht sowieso schon vorher für gewaltfreien Umgang interessieren. Menschen, die über Rassismus nichts wissen wollen, umstimmen oder überzeugen zu wollen, davon bin ich weit entfernt.
Was mich hoffnungsvoll stimmt, ist, dass es immer mehr journalistisch aktive Leute gibt, die selbst superkulturell und politisch gebildet sind. Ich bilde mir ein, dass immer mehr Medienschaffende für Diskriminierung schon von vornherein sensibilisiert sind. Im Moment bin ich vor allem froh darüber, dass immer mehr Nachrichtenleute in Deutschland anscheinend inzwischen verstanden haben, dass Europas Grenzpolitik menschenverachtend ist, und dass das etwas mit Rassismus zu tun hat. Das ist aber nicht meiner politischen Arbeit zuzurechnen, sondern der der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ und anderen Geflüchtetenselbstorganisationen. Die haben in meinen Augen das meiste für die politische Bildung und Zivilisierung der BRD erreicht. Und das aus ihrer Situation heraus! Es ist eine Schande, dass sie nicht angemessen gewürdigt sondern nach wie vor institutionell bedroht werden.
Mein Ziel mit dem Buch und Hörbuch war, denjenigen, die sich diese Informationen wünschen, sie griffig aufbereitet zur Verfügung zu stellen. Und auch, dass ich mich danach selbst weiterbewegen kann. Wenn ich ständig dieselben Grundzusammenhänge immer wieder erklären würde, das wäre ja kontraproduktiv.
Mit „Deutschland Schwarz-Weiß“ haben Sie so etwas wie ein Standardwerk zum Thema Rassismus in Deutschland geliefert, das viel zitiert wird. Wird es denn auch eine Fortsetzung geben? Bedarf gäbe es ja genug…
Da ließen sich sicher jedes Jahr 5 Bücher schreiben. Mir ist es aber lieber, einmal die Grundlagen zusammengefasst zu haben, und dass die, die von dort aus weiter Interesse haben, sich dann aktuellen Geschehnissen zuwenden. Ein Buch kann immer nur aus der Vergangenheit heraus schöpfen. Es gibt aber inzwischen so viele wichtige und lehrreiche Blogs und Webseiten, die immer mitten am Geschehen sind, und vor allem sich auch dem zuwenden, was im Moment, diese Woche, passiert. Das finde ich viel wichtiger als aufzulisten, was letztes Jahr alles blöd lief. Wenn ich heute etwas schreibe, dann ist es meistens eine Analyse, die mir selber noch in der Öffentlichkeit fehlt, wie z.B. den Artikel über die momentane Verdrehung von Black Studies hierzulande. Aber am liebsten schreibe ich jetzt für die, denen ich Rassismus nicht mehr erklären muss. Ich muss mir meine Zeit ja auch einteilen, und überlegen: mit wem will ich sie eigentlich verbringen, für welche Leute will ich arbeiten?
Ein Kapitel in Ihrem Buch heißt: „Neue Strukturen schaffen: Meine Forderungen für eine antirassistische Gesellschaft“. Können Sie uns kurz skizzieren, was Ihre Forderungen sind?
Ohne nochmal ins Buch zu sehen, stattdessen aus dem Jahr 2014 gesprochen, wären sie heute unter anderem:
- dass Angriffe auf gleichheitsfördernde Arbeit endlich sanktioniert werden. Anderes ist eigentlich mit unserer Verfassung nicht vereinbar.
- dass die Communities in ihrer kulturellen Arbeit unterstützt werden. Sie leisten schließlich die wichtigste geschichtliche, soziale und politische Bildungsarbeit, die wir haben, ohne sie würde die BRD ewig im 19. Jahrhundert bleiben. Dass diese Arbeit wertvoll und unabdingbar ist, wird langsam allmählich entdeckt, allerdings mit dem Resultat, dass die Communities die Arbeit weiterhin ehrenamtlich leisten sollen und andere davon finanziell profitieren. Das müsste korrigiert werden.
- Dass Rassismus- und Kolonialgeschichte ohne Beschönigungen oder Tätersympathie im Unterricht behandelt werden. Vor allem aber, dass die Mechanismen erklärt werden, die dahinter wirkten, und wie diese auch heute noch greifen. Dasselbe vermisse ich auch im Unterricht über den Nationalsozialismus. Der findet zwar wenigstens statt und es wird darin nichts offenkundig beschönigt, aber das war's auch schon. Wie Nationalsozialismus sich etablieren konnte, wie fatal die immer noch in der Schule gelehrte Pseudo-Dichotomie „Juden // Deutsche“ überhaupt ist, und was das über das Scheitern unserer geschichtlichen Aufarbeitung sagt, das steht heute noch in keinem Lehrplan, ganz im Gegenteil.
- Dass staatliche Publikationen, vor allem Schulbücher, auf Rassismus und andere diskriminierende Gewalt, untersucht werden, und diese Gewalt daraus entfernt wird.
- Dass es an jeder Schule, Uni und in jeder Gemeinde qualifizierte und niedrigschwellige Gleichstellungsbüros gibt. Davon sind wir noch weit entfernt. Wenn sie bezahlt sind, gehen die Stellen zumeist an Leute ohne Mehrfachdiskriminierungserfahrungen, ohne Migrationsgeschichte, ohne Superkulturalität. Zu oft sind die Stellen unterfinanziert und zeigen sich regelmäßig hilflos, ohne ordentliche Handlungskompetenzen ausgestattet. Handlungskompetenz kommt aber nicht aus der Luft. Es gibt Menschen und Länder, die darin 30 Jahre Erfahrungsvorsprung haben. Die könnten ja mal konsultiert werden. Die Aufgabe muss endlich ernst genommen werden, es sollte sich von der Besitzstandswahrung verabschiedet werden und die BRD sollte jetzt langsam Gleichstellung als ihr ureigenes Interesse begreifen. Diese vielen möglichst handlungsschwachen Feigenblatt-Einrichtungen sind doch einfach nur schmerzhaft und peinlich.
Warum wird das Unterrichten über Rassismus und Kolonialgeschichte nur so schwerfällig umgesetzt?
Das habe ich mich auch schon oft gefragt! Damit es noch leichter wird und es keine Ausreden mehr gibt, habe ich das Hörbuch extra unterhaltsam als „Fortbildungs-Tool“ konzipiert. Einfach nur Play drücken, und alle lernen was, und das auch noch mit lockerer Haltung. Bis ich irgendwann zu dem Schluss gekommen bin, dass es hier gar nicht um ein Informationsdefizit geht, das durch genügend Inhalt einfach ausgeglichen werden kann. Es können noch 45000 mehr Texte und Videoclips erscheinen, die die Wirkungsweise von Rassismus erklären, sie würden nichts ändern. Ich glaube, wo eine Wissenslücke besteht, ist sie auch gewollt. Wer etwas über Kakteenzucht, E-Zigaretten oder Rassismus erfahren will, findet heutzutage jede Information superleicht aufbereitet. Bei Rassismus gibt es allerdings die Hürde, dass wir von ihm umgeben ja auch aufwachsen. Manche also sich darüber im Recht fühlen, sich nicht über Gleichheit selbst fortzubilden und die anderen tendenziell ausgenutzt werden. Rassismus ist eben nicht 'ein Thema', sondern es sind alle Menschen davon betroffen, und das auch noch ohne es zu wollen. Deswegen werden viele so nervös, wenn sie zum ersten Mal erfahren, dass Rassismus kein Schwarzes Problem ist, sondern eine Struktur von white supremacy. Weil es sie dann etwas angeht und gleichzeitig erst einmal eine Hilflosigkeit einsetzt. Am schwersten ist es wohl für die, die Rassismus ablehnen, sich aber noch nie über ihn fortgebildet haben. Da geht es vor allem ums Selbstbild: ich bin ein guter Mensch, kein Nazi und kein Rassist. Daran zu rütteln! Zu verstehen, dass „Rassist sein“ keine monolithische Personenbeschreibung ist, sondern dass nette hilfsbereite Menschen täglich rassistische Sachen sagen. So wie auch Lebensretter sexistische Witze machen. Und zu verkraften, dass es um „aberichaberichichich“ gar nicht geht, sondern um eine Tradition, die abgebaut werden muss. Das getrauen sich viele nicht. Ich fände gut, wenn Rassismus verstanden wird als Bazille, die uns ein paar gemeingefährliche Killer-Großväter übertragen haben, gleichzeitig mit dem ganzen Tafelsilber. Und dass wir uns jetzt nicht darauf konzentrieren, dass das Andenken an diese Killer-Opas möglichst positiv begangen wird, sondern darauf: wie genial eine Welt sein könnte, in der alle Leute dieselben Startchancen und Möglichkeiten haben.
Mich interessiert auch noch sehr, was Ihre Position ist zur m.E. nach auch noch wenig fortgeschrittenen Debatte von intersektionalem Feminismus in Deutschland. Ich habe stark den Eindruck, dass hier noch ganz schön viel getan werden müsste. Würden Sie sich selbst überhaupt im (deutschen) Feminismus verorten wollen?
Ich habe das diasporische Glück, dass ich mein Feminismusverständnis nicht in einem Land verorten muss (lacht). Ich fände es gut, wenn der deutsche Feminismus zwei Dinge verstehen würde: erstens, dass der deutsche Feminismus nicht der-Feminismus™ ist, und dass er sich auch nicht in einer abgeschirmten Blase entwickelt hat, sondern dass er natürlich stark beeinflusst ist von den Kämpfen derer, die er im Moment selbst noch oft vergisst und ausblendet. Dafür wäre mehr global-historische und intersektionell betrachtende Aufarbeitung nötig. Zweitens müssten aber die Besonderheiten schon auch noch besser durchleuchtet werden. Was unterscheidet die deutsche feministische Herangehensweise von der polnischen, ruandischen, jordanischen, ghanaischen, usw. Was für neurotypische Voreingenommenheiten gibt es im Feminismus? Was kann der Hetfeminismus vom Queerfeminismus lernen? Wie weit geht es im aktuellen Projekt um eine gesellschaftliche Entwicklung und wie weit nur um „Aufstieg“ in eine privilegierte Kaste? Ich vermisse oft den Blick über den kulturellen Tellerrand. Kultur meine ich dabei gar nicht im geografischen Sinne. Ich glaube, feministisch aktive Leute haben dieselben Befindlichkeiten wie alle anderen auch, wenn es darum geht, die eigene Praxis kritisch zu analysieren. Das ist halt unbequem. Viele tun das schon, aber es dürften noch mehr werden, damit feministisches Denken und Handeln nicht länger an vielen Lebensrealitäten vorbeischrammt.
Sie sind auch erfolgreiche Künstlerin (Musikerin, Schriftstellerin, Bildende Künste…). bell hooks hat mal geschrieben “The function of art is to do more than tell it like it is-it’s to imagine what is possible.” Welche Rolle spielt für Sie die Kunst in Verbindung mit Aktivismus?
Gegen eine 'Funktion' von Kunst würde ich mich zunächst verwehren. Kunst ist zuallererst intim, in den Schaffenden und danach auch in den Betrachtenden. Meine Herangehensweise ist die: Ich versuche immer mehr, meine Tätigkeitsfelder nicht als voneinander getrennt zu begreifen, sondern sie zu verschmelzen. All die Sachen tue ich eigentlich nicht, um mich auf verschiedenen Feldern zu bewegen, sondern um das Feld selbst zusammenzuführen. Manche Zustandsbeschreibungen bedürfen zwingend eines Bildes, manche Analysen gehen nur als Lied, und manche Gedichte müssen in einem langen literarischen Text aufgenommen werden, damit sie weiterleben. Unter Aktivsimus verstehe ich mehr und mehr zum Einen eine deutliche Abwendung von diskriminierenden Anspruchskulissen. Das ist für sich genommen schon anstrengend und lebensgefährlich genug. Auch als Kunstschaffende. Zum Anderen habe ich verstanden, dass eine konsequente Zuwendung zu den eigenen Communities, den eigenen Leuten, für mich die wichtigste Form von Aktivismus und auch Kunst ist. Je mehr ich mich anderswo aufreibe, desto weniger habe ich an meine Nichten zu vergeben. Und die sind schließlich das Wichtigste. Für wen ich Bilder, Lieder, Gedichte mache, ist schon eine politische Entscheidung. Insofern kann ich Kunst sowieso nicht als getrennt von Utopie verstehen, von Wandel, von Hoffnung, Schönheit, Schmerz, Musik, Community und dem Leben-und-Ausdruck-als-Ganzem.
Ihre letzten Arbeiten hatten das Thema Wellness im Fokus. Können Sie uns dazu etwas erzählen? Wie sind Sie auf das Thema gekommen, das ja ansonsten meistens in irgendwelchen neoliberalen Konsumzusammenhängen vorkommt, zum Beispiel in der Werbung von „Dove“?
Das ist das, was mich an „Wellness“ immer irritiert hat. „Wellness“ war für mich offiziell negativ belegt, als Luxus, Privileg, Verzogensein, etc. Gleichzeitig werden wir als Schwarze Frauen sanktioniert, wenn wir die Dinge tun, die uns gut tun. Stattdessen sollen wir die Ansprüche der anderen antizipieren und uns an denen entlang orientieren. Ich habe das immer als Clash wahrgenommen, dass ich, wenn ich mir Ruhe gönne, oder etwas ganz einfaches wie einen halben freien Tag, ich direkt ein schlechtes Gewissen bekomme, aber gleichzeitig überall eine Wellness-Industrie Werbung macht. Natürlich meint deren 'Wellness' nur bestimmte Leute und Handlungen und nicht unsere Wellness. Schon allein deswegen wollte ich den Begriff re-claimen: Schluss mit Wellness nur für Hildegard! Wellness für Aminata! Mir und vielen, die ich kenne, geht es so, dass das 'Pflichtbewusstsein' und das 'Funktionieren' oft verhindern, dass wir an unsere Bedürfnisse denken. Also habe ich das Experiment gemacht, die Frauen gebeten, eine Wellness-Aktion zu begehen, und daraus mit ihren Einwegkamera-Ergebnissen und Berichten einen Fotofilm gemacht. Heraus kam überraschenderweise etwas, was auf den ersten Blick vielleicht mehr unter Selbstfürsorge fällt als unter 'Wellness', und genau deswegen ist der Film für mich nun eher der Anfang eines überfälligen Dialoges. Was bedeutet Wellness für uns? Sind so rudimentäre Dinge wie im Café zu sitzen ohne belästigt zu werden für uns nur deswegen Wellness, weil wir uns nichts erlauben, was darüber hinaus geht, oder weil mehr nicht infrage kommt, oder weil wir andere Wertvorstellungen haben? Oder weil wir keine Übung haben? Oder weil wir nicht dekadent sein wollen oder können? Das ist ein offener Dialog, der mit der Ausstellung geführt wird, zum Beispiel am 12. Dezember 2014 in Berlin, bei Frauenkreise. Aber hoffentlich auch weit darüber hinaus. Ideal wäre in jedem Wohnzimmer. Es ist mir wichtig, dass die Schwestern mehr auf ihre Befindlichkeit und Bedürfnisse und Empfindsamkeiten achten. Möge dieses Tabu in kostbarem Orangen- und Lavendelöl ersäuft werden.
Das Interview führte Julia Brilling im Dezember 2014